Exklusiv-Interview mit Wildweibchen-Preisträger Paul Maar:

Wichtig ist die Erziehung zur Toleranz

Zur Person:
Paul Maar, Jahrgang 1937, in Schweinfurt geboren. In seiner Biografie heißt es u.a.: "Nach dem Abitur studierte er an der Kunstakademie in Stuttgart Malerei und Kunstgeschichte, danach war er ein Jahrzehnt als Kunsterzieher tätig. Heute lebt er als freier Autor und Illustrator in Bamberg. Er ist verheiratet und hat drei inzwischen erwachsene Kinder".

46 Buchveröffentlichungen weist seine Bibliographie auf und 30 internationale Auszeichnungen. Im Rahmen der Reichelsheimer Märchen- und Sagentage wird er mit dem Wildweibchenpreis ausgezeichnet.

Er zählt zu den bekanntesten Vertretern der deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchszene - Paul Maar (63), in Bamberg zuhause, vielfach ausgezeichneter Autor und Illustrator sowie Erfinder der Kultfigur "das Sams" (die nach den Bucherfolgen nun auch ab 18. Oktober als Kinostar zu reüssieren versucht). Mehr noch: Paul Maar ist - nach Willi Fährmann, Hans-Christian Kirsch, Otfried Preußler, Michail Krausnick und Cornelia Funke der 6. Wildweibchen-Preisträger, dessen Ehrung im Rahmen der Reichelsheimer Märchen- und Sagentage ansteht. Anlass für "Wir. Das Regionalmagazin" den Preisträger zu befragen. Nachfolgend das autorisierte Gesprächsprotokoll.

Herr Maar, was ist Ihnen alles durch den Kopf gegangen, als Sie erfuhren, daß Sie der Wildweibchenpreisträger 2001 sind?

Paul Maar:

Ich muss gestehen, dass mir der Preis vorher kein Begriff war. So rief ich erst mal bei meinem Verlag an und fragte nach, ob man dort den Preis und die Initiatoren kenne. (Ich möchte mich schließlich nicht aus Unkenntnis als Preisträger einer Institution präsentieren, mit der ich mich nicht identifizieren kann, etwa einer rechtsgerichteten Organisation.). Dem Verlag war der Preis durchaus ein (positiver) Begriff und man erzählte mir, dass meine Schriftstellerkollegin Cornelia Funke ganz begeistert vom Märchenfest und vom äußeren Rahmen der Preisverleihung berichtet habe. So konnte ich mich also ohne Einschränkung auf den Preis freuen und sagte sofort zu.

Für viele Ihrer zumeist jugendlichen Leser sind Sie der Erfinder des Sams, spätestens seit der Verfilmung (die am Donnerstag, 18.10. bundesweit gestartet wird) eine weitere Kultfigur in der Kinder- und Jugendbuchszene. Wie kamen Sie seinerzeit ausgerechnet auf das Sams?

Paul Maar:

Für mich war die Hauptfigur im Buch (und noch ausgeprägter sogar im Filmdrehbuch) nicht das Fabelwesen Sams, sondern dessen schüchterner, etwas lebensfremder "Papa" Taschenbier. Ihm erfand ich eine Gegenfigur, die all das verkörpert, was Herr Taschenbier an Anlagen und Eigenschaften in sich trägt, aber nicht auslebt, nicht zulässt. Taschenbier ist schüchtern, ängstlich, versagt sich eigene Wünsche, lebt zurückgezogen ohne Kontakt zu anderen Menschen. Das Sams ist frech, mutig, kann alle Wünsche erfüllen (und erfüllt sich auch die eigenen), geht auf andere zu, redet jeden an, sucht Kontakte.

Was zeichnet diese Figur aus, um "Botschaften" an Leser zu senden?

Paul Maar:

Das Sams zeigt, dass es wichtig ist, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, nicht fremdbestimmt zu leben, sich manchmal über Konventionen hinwegzusetzen, und mutig und selbstbewusst seinen eigenen Weg zu gehen und nicht immer ängstlich zu fragen, ob das "üblich" sei und was denn die Anderen davon halten.

Wenn Sie Ihre "Rolle", Ihre Mitgestaltungsmöglichkeiten als Autor innerhalb unserer Gesellschaft definieren sollten, wie würde Ihre Antwort lauten?

Paul Maar:

Sie ist leider verschwindend klein. Die Prägung durch die Bild-Medien, hauptsächlich durchs Fernsehen, ist übermächtig. Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass ich durch meine Bücher den einen oder anderen Leser erreiche und - ohne den pädagogischen Zeigefinger hochzurecken - zum Nachdenken bringe. Die vielen Kinderbriefe, die mich fast täglich erreichen, lassen mich das hoffen.

Wie wichtig ist Ihnen der Umgang mit Sprache, das Ingangsetzen von Phantasie?

Paul Maar:

Soziologen sagen uns, dass sich unsere Gesellschaft gerade von einer Industrie- zu einer Informationsgesellschaft wandelt. Schon jetzt arbeiten in Deutschland mehr Menschen in Informationsberufen als in der Autoindustrie. Vor diesem Hintergrund wird Sprache, Sprachvermögen, Lesefähigkeit, Kreativität und Phantasie wichtiger als je zuvor. Sonst besteht die Gefahr, dass sich unsere Gesellschaft zu einem Zweiklassensystem entwickelt: Auf der einen Seite die gut Verdienenden, Privilegierten, die mit Sprache umgehen können, durch frühe Leseerziehung emotionale Intelligenz und Kreativität entwickelt haben und sich in den neuen Medien auskennen, auf der anderen Seite die Unterprivilegierten, denen es zum Beispiel auf Grund ihrer Sprachmängel und Lese-Defizite viel schwerer fällt, das Internet kompetent zu nutzen.

Schriftsteller reagieren - hoffentlich nach wie vor - sensibler auf sich anbahnende Entwicklungen innerhalb dieser Gesellschaft. Wie ist denn Ihr persönliches Empfinden, wenn Sie vor Augen haben, was sich derzeit weltpolitisch vollzieht?

Paul Maar:

Ich beantworte diese Frage gerade eine Woche nach dem grauenvollen Massenmord in New York. Wenn die Leser meine Antwort lesen, sind meine Befürchtungen und Überlegungen vielleicht längst überholt. Meine Ängste gehen heute dahin, dass die nachvollziehbare Wut der U.S.-Bevölkerung zu schnellen, unkontrollierten Racheakten führt, die nicht die Täter selbst treffen, sondern Privatpersonen, die genau so unschuldig sind wie die Opfer im World Trade Center. Wir müssen uns vor Pauschalisierungen hüten. Es wäre fatal und ganz im Sinne der Terroristen, wenn durch die Taten einiger Verbrecher ein absurder Glaubenskrieg entstünde: Die christliche gegen die islamische Welt.

Was kann ein Kinder- und Jugendbuchautor vor einem solch apokalyptischen Hintergrund Lesern noch vermitteln?

Paul Maar:

In vielen meiner Bücher, wie "Lippels Traum" oder "Neben mir ist noch Platz", versuche ich zu zeigen, dass ein Miteinander verschiedener Kulturen und Lebensformen zwar schwierig, aber möglich ist. Wichtig ist eine Erziehung zur Toleranz. Genauso wichtig ist es auch, positive Phantasien und Utopien zu entwickeln und nicht auf einem Stadium der Hilflosigkeit und Ohnmacht zu verharren.

Der Wildweibchenpreis ist eine Auszeichnung, die im Rahmen eines Märchenfestes verliehen wird, zu dem Groß und Klein mit der Erwartung kommen, dem grauen Alltag für Stunden, im optimalen Falle für drei Tage, zu entfliehen. Was werden Sie tun, was müssen wir tun, damit uns dies auch 2001 ein wenig gelingen kann?

Paul Maar:

Es ist völlig legitim, sich aus einer unheilen Welt  für eine Weile in eine Welt des Märchens und der Phantasie zurückzuziehen, um dort neue Kraft zur Bewältigung der alltäglichen Probleme zu schöpfen. Ich für meinen Teil werde durch eine kleine Lesung zum Gelingen der Veranstaltung beitragen

Die Fragen stellte
.© W. Christian Schmitt,
wcschmitt@aol.com
Telefon 06151-421998
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