|
 Sagen und Märchen sind keine Lügengeschichten für Kinder und geistig Zurückgebliebene, es sind traumhafte Erinnerungen uralter Menschheitserfahrungen, traumhaft auch, weil ihre Bildersprache eng verwandt ist mit der unserer Träume.
|

|
|
Und während die Märchen eher jenen schönen Träumen ähneln, aus denen man erst gar nicht aufwachen will, die uns dann aber froh und mit Mut in den neuen Tag, gehen lassen, haben Sagen oft Ähnlichkeiten mit Alb- und Angstträumen, und zumeist enden sie unglücklich, oder - wie die großen Heldensagen - sogar tragisch.
Aber so ist unser Leben, ausgespannt zwischen märchenhaftem Lebensmut und der Hoffnung auf Glück auf der einen und der Angst vor dem Scheitern unserer Bemühungen auf der anderen Seite. Und nicht nur, weil ich im Namen der Europäischen Märchengesellschaft schreibe, wünsche ich mir und Ihnen, dass wir der märchenhaften Hoffnung mehr trauen als der Verzweiflung.
Um Schlossgespenster geht es in diesen Märchentagen auch: Gespenster sind nicht einfach komisch-gruselige Phantasiegestalten, sie hausen in unserem Kopf. Wer einmal allein in einem dunklen Wald war oder wie Anette von Droste-Hülshoffs Knabe allein im Moor, der weiß, dass sich Schemen, die wir eher ahnen als sehen, im Kopf zu Gestalten formen. Und das ist nicht nur bei einer Nachtwanderung so: Wenn uns das Leben und die Zukunft undurchschaubar erscheinen, sehen wir die Gespenster unserer Angst - Angstphantasien, Projektionen und Übertragungen nennt das die Psychologie. Und wenn nicht nur draußen in der dunklen Welt um uns, wenn gar im Schloss, dem uralten Bild für das Innerste des Menschen, Gespenster hausen und herrschen - Fanatismus; Hass, Verfolgungswahn -, dann ist das Leben bedroht.
In den Märchen behalten die Gespenster nicht das letzte Wort, sie werden vertrieben von dem, der sich nicht vor der Angst überwältigen lässt, und dann wird das Schloss zum Ort der Hochzeit, und die Gegensätze und Unterschiede des Lebens verbinden sich zu einer reichen Harmonie, die neues Leben wachsen lässt.
Ich wünsche Ihnen märchenhafte Tage und jenen Mut, der die Gespenster austreibt und verwunschene Schlösser mit Leben füllt.
|