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27. - 29. Oktober 2006

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HEUTE BACK’ ICH, MORGEN BRAU’ ICH

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Letzte Aktualisierung:
01.11.2006

Aktueller Wildweibchenpreis steht auch für Gelehrtenfleiß
Märchen- und Sagentage: Professor Heinz Rölleke, Volkskundler und Grimm-Spezialist, erhält Auszeichnung der Gemeinde Reichelsheim – Beeindruckender Festabend

Für einen märchenhaften Beginn des Festabends zur Verleihung des Wildweibchenpreises sorgten am Samstag in der Reichenberghalle Schüler des Musikinstituts Lindenfels-Reichelsheim: Unter Leitung von Helmut und Sabine Hechler und jeweils vierhändig am Klavier erfreuten Vitalina Kiesel und Rebecca Ziergöbel mit einem spanischen sowie Maximilian Höly und Ralf Pilger mit einem ungarischen Tanz.

„Märchen verzaubern! Und wenn sie auch manchmal grausam anmuten – am Ende wird doch alles gut.“ Dies sagte Volker Sparmann, Chef des Rhein-Main-Verkehrsverbundes, als Schirmherr der Veranstaltung. Märchen seien wunderbar, mit ihnen werde ein Teil der Kindheit wieder wach. Zudem nutzte er die Gelegenheit, die Herzlichkeit und Lebendigkeit der Reichelsheimer zu loben.

Zu den Wildweibchenpreisträgern der Vorjahre – Willi Fährmann, Hans-Christian Kirsch, Ottfried Preußler, Michael Krausnick, Cornelia Funke, Paul Maar, Christine Nöstlinger, Sigrid Früh, Heinrich Pleticha und Erhard Dietl – gesellt sich nun ein neuer Name: der von Professor Heinz Rölleke. Einstimmig war der Märchenforscher und Grimm-Spezialist von der Jury ausgewählt worden.

Als Märchentage-Botschafter hielt Professor Heiner Boehncke (Frankfurt) die Laudatio. Größter Verdienst des umtriebigen Preisträgers mit rötlichem Haar und einer tiefen, warmen Erzählstimme sei die Aufwertung der Märchen, indem er diese zum Gegenstand der Philologie machte. In mehr als 50 Büchern und 200 Aufsätzen habe es der Volkskundler und Grimm-Forscher von Weltrang in detektivischer Arbeit verstanden, die Wunder und Zauberei von Logik und Textverstehen sauber zu trennen. So entdeckte Rölleke den „Skandalbruder Ferdinand“ und widersprach damit der Idealisierung der Grimm-Familie. Ebenso fand er heraus, dass es sich bei der Figur der Märchenzuträgerin „Marie“ nicht um eine „hessische, bäurische Alte“, sondern eine 19 Jahre junge Frau mit französischen Vorfahren handelte.

Hinter dem 1975 erschienenen Hauptwerk, der ältesten Märchensammlung der Brüder Grimm, steckten enorm viel Gelehrtenfleiß und eine traumwandlerische Sicherheit im Umgang mit alten handschriftlichen Aufzeichnungen. Dem Preisträger attestierte der Laudator die gleichen Attribute, die Heinz Rölleke einst den Brüdern Grimm zuschrieb: Andacht zum Unbedeutenden, bewundernswerte Geduld und Ausdauer sowie die Kunst des Einfühlens. Der Professor für Philologie und Volkskunde lehrte seit 1974 nicht nur in Wuppertal, sondern auch in Cincinnati, Düsseldorf, Trier und Köln.

Ralf Magerkurt, Vorstandsmitglied der Volksbank Odenwald, bestätigte in seinen Grußworten das Bild eines lebendigen Reichelsheim und würdigte die Erfolgsgeschichte der Märchen- und Sagentage. Magerkurt überreichte Heinz Rölleke die Urkunde, die vom Groß-Bieberauer Künstler Manfred Fischer gestaltete „Wildweibchen“-Skulptur sowie einen Scheck in Anerkennung der Forschungsarbeit um die Geschichten der Brüder Grimm.

Der Preisträger zeigte sich gerührt und erfreut, dass „das am meisten bekannte, übersetzte und aufgelegte Buch in deutscher Sprache aller Zeiten – die Grimm'schen Märchen – endlich würdig in den Blick genommen wird“. Voller Humor erzählte Rölleke von seinem Fund im großartigen „Sammelunternehmen“ der Brüder Grimm über die deutschen Sagen (1816-1818). Dort ist unter Nummer 169 „Rodensteins Auszug“ beschrieben und die damit verbundene Kriegsvorhersage nebst ehrenvoller Erwähnung des Ortes Reichelsheim. Von den musikliebenden und tanzfreudigen Wildweiblein wusste der Gast zu berichten, dass auch sie Ereignisse mit fröhlichem oder jammerndem Singen ankündigten.

Der Preisverleihung folgte ein märchenhaftes Unterhaltungsprogramm, das von Reichelsheimer Vereinen und Gastgruppen aus der Region gestaltet wurde. Stilecht moderierte – mit langem grauen Bart und breitkrempigem Hut – Cheforganisator Jochen Rietdorf als Rumpelstilzchen.

Zwei Varianten des Märchens „Dornröschen“ fanden großen Anklang beim Publikum. Während die Rohrbacher Kids das Spiellied „Dornröschen war ein schönes Kind“ aufführten, überraschte die Klasse 4b der Grundschule mit einem „Dornröschen-Rap“. Klatschend und stampfend ertönte ihr Sprechgesang, bis auch hier die Schlafende wach wurde. Mit rotgeschminkten Bäckchen und Zipfelmützen marschierten die Jumping-Bubblegums des KSV Reichelsheim auf die Bühne.

„Die zertanzten Schuhe“ heißt das Märchen von den zwölf Königstöchtern, die Nacht für Nacht die Schuhe zertanzen, um ihre Prinzen zu erlösen. Diese Erzählung animierte die Tänzerinnen des SV Ober-Kainsbach, zu Discoversionen bekannter Hits über das Parkett zu wirbeln. Berühmte Opernchöre wurden von den Teilnehmern des Chorprojektes „Operngala“ des MGV Eintracht 1844 vorgetragen. Zwei lebhafte jiddische Instrumentaltänze des Trios „Saitenspiel“ mit Geige, Kontrabass und Gitarre schlossen sich an. Die drei Schwestern Beate, Maria und Anne-Bärbel Frassine überraschten zudem mit einem a-capella-Liebeslied.

Solistin Maria faszinierte mit dem Liedportrait über die „Griene Kusine“. Mit der ebenso gelungenen Interpretation von Bette Middlers Song „The Rose“ – es sangen Mareike Turba und Tine Köhler, begleitet von Tanja Spatz am Klavier – klang der Festabend aus.

kof
30.10.2006

„Rumpelstilzchen“ in der Analyse
Augenzwinkern: Wildweibchen-Preisträger fasziniert Gäste mit humorvoller Betrachtung – Reichlich Hintergründiges aus der oft undurchsichtigen Märchenwelt

Der Titel klang wissenschaftlich: „Über die Herkunft und Bedeutung der Märchen“, ein leibhaftiger Professor sollte referieren, und dann kostete das Ganze auch noch Eintritt! Dennoch war der Saal in der Gemeindeverwaltung voll besetzt, wollten rund fünfzig Mitmenschen wissen, was der Wissenschaftler und diesjährige Wildweibchen-Preisträger Heinz Rölleke an Hintergründigem speziell zum „Rumpelstilzchen“ zu sagen hatte. Um es kurz zu machen: Er sagte viel, und er sagte es locker, leicht verständlich und zugleich mit sichtbarem Vergnügen.
Der hoch geachtete Referent freute sich sowohl über die Erkenntnisse, die er publik machen konnte, als auch über die Reaktionen seines Publikums, das immer wieder verstohlen grinste, vergnügt kicherte, oder gar lauthals losprustete. Der Professor hatte seine Zuhörer voll im Griff, und sie dankten ihm mit lang anhaltendem Applaus. „Märchen durchbrechen die physikalischen Grundgesetze“, erklärte der Fachmann, „aber keiner wundert sich groß darüber“.

Die drei magischen Wörter „Es war einmal“ stellten quasi eine Eintrittskarte dar für das folgende Märchen, und wer sich darauf einlasse, müsse auch die Konsequenzen akzeptieren. In der Geschichte selbst agierten dann standardisierte Typen, meist ohne Namen (der König, ein Bauer etc.) und ohne echte Gefühle. Die zwar „traurig sind“, wenn die Frau gestorben ist, aber nur deshalb, weil gerade keine andere zu finden ist, die ebenso schön wäre wie die erste.

Märchen spiegeln soziale Vorurteile wider, lernten die Zuhörer weiterhin. So sei es kein Zufall, dass der Vater, der dem chronisch klammen König sein Töchterchen als eine anbietet, die Stroh zu Gold machen kann, ein Müller war. Müller waren ehemals verachtete Leute, die außerhalb der Stadt wohnten, und von denen man nie wusste, was sie so alles trieben. Einem Müller traute man alles Schlechte zu – und war dennoch auf ihn und seine Arbeit angewiesen.

Märchen sind extrem, war zu erfahren. Es gilt die Regel des „entweder - oder“, also Kopf ab, wenn eine Bedingung nicht erfüllt wird, oder Hochzeit, wenn alles klappt. Im Märchen können zudem faustdicke Wunder passieren, ohne dass dies die Beteiligten groß erstaunt. Märchenfiguren verfügen über ein extrem schlechtes Gedächtnis. So habe die Müllerstochter in ihrer Not dem hilfreichen Männchen zwar „ihr erstes Kind“ zugesagt, aber als es dann „übers Jahr“ so weit war, war sie bass erstaunt, dass es nun auftauchte, um seine Rechte einzufordern.

Glücklicherweise müssten jedoch auch die Dämonen gewisse Gesetze beachten, wusste der Professor, und die verböten offensichtlich eine „Übertölpelung“. Und da die junge Königin bei ihrem Deal mit dem Männchen offensichtlich über den Tisch gezogen worden ist, bekommt sie nun eine – wenn auch minimale - Chance, dem Fluch zu entkommen.

Wenn sie ihren Peiniger beim Namen zu nennen wüsste, erhielte sie Macht über ihn und könnte den Bann brechen.

Hier sei die Königin absolut zu bewundern, meint der Referent. Denn jetzt würde sie zum ersten Mal selbst aktiv. Nachdem sie sich vom Vater, dem König, dem Männlein bislang nur hat herumschubsen lassen, allenfalls geweint hat als einzige Reaktion, schickt sie jetzt auf eigene Faust Diener in den Wald, die sich nach ungewöhnlichen Namen umhören sollen. Und hat damit, wie wohl jeder weiß, tatsächlich Erfolg.

Hierin sei die eigentliche Aussage und Botschaft des Märchens als Erzählform zu sehen, so der renommierte Wissenschaftler. Und die formuliert er so: „Trau deinen Helfern nicht ewig: Hilf dir lieber selbst und nabel dich endlich ab“.

sun
30.10.2006

Gold aus Stroh – das wäre es doch
Sagentage: Bei der langen Nacht der Märchen bekundet auch ein Regierungspräsident
sein Erschrecken über so manche Geschichte

Bühne frei auch für nicht professionelle Leser – so hieß es am Freitagabend bei den Reichelsheimer Märchen- und Sagentagen, als zur langen Nacht der Märchen gerufen wurde. Den Anfang machte Erster Kreisbeigeordneter Dietrich Kübler, der es sichtlich genoss, einmal ganz offiziell Märchen erzählen zu dürfen, „auch wenn Politiker dies sonst nicht tun sollten“. Ausgewählt hatte er seine zwei Lieblingsmärchen „Rumpelstilzchen“ und „Tischlein, deck dich“, die schließlich beide mit der Landwirtschaft und der Notwendigkeit Geld aufzutreiben, zu tun haben. „Ein Rumpelstilzchen, das Stroh zu Gold spinnen kann, könnten wir auch hier gut gebrauchen“, meinte Kübler und erzählte auf Fragen aus dem Publikum hin ein bisschen von sich selbst und von seiner Arbeit als Landwirt und Kommunalpolitiker.

Strenger beim Thema blieb der zweite prominente Leser des Abends: Gerold Dieke, Regierungspräsident für Rhein-Main-Südhessen und bekennender Fan der Reichelsheimer Märchen- und Sagentage, hatte sich aus einer dicken Gesamtausgabe der Grimm’schen Märchen vier nicht so bekannte Geschichten ausgesucht. Er sei beim Durchblättern ziemlich erschrocken gewesen darüber, „was da alles so drin steht“. Vor allem „Der Räuberbräutigam“ habe es in sich, zart besaitete Gemüter sollten deshalb lieber bei dieser Geschichte hinausgehen. Was aber keiner tat – auch die Kinder nicht, welche die Abenteuer der couragierten Müllerstochter mit glänzenden Augen verfolgten.

Nach der Pause kamen die professionellen Märchenerzählerinnen Karola Graf und Hannelore Marzi zu Wort, die mit ihren Geschichten vom Essen und Trinken, von Müllern, Schustern und Spinnerinnen in gewohnt brillanter Manier ihre Zuhörer bis nach Mitternacht zu bannen wussten. War der Schwarzkopf-Saal zu Beginn der langen Märchen-Nacht mit rund 40 Zuhörern bereits gut besetzt gewesen, so kamen im Lauf des vierstündigen Programms immer wieder neue Gäste hinzu, so dass sich zeitweilig an die hundert Zuhörer für die bunte Mischung aus der Märchenkiste begeisterten.

sun
30.10.2006

Wo in den Tönen Geschichten stecken
Märchentage-Konzert: „Lex mihi ars“ entführt Publikum akustisch in andere Welt

Musikfreunde unter den Märchenanhängern pflegen sich am Mittelalter-Konzert in der Evangelischen Michaelskirche zu erfreuen, das die Reichelsheimer Märchen-und Sagentage seit Jahren begleitet. Diesmal trat ein Trio auf, dessen Name zunächst Schmunzeln auslöst. Dabei ist es die Bezeichnung einer mittelalterlichen Liedersammlung, die nur irrtümlicherweise mit dem bekannten Ausspruch Götz von Berlichingens assoziiert wird: „Lex mihi ars“ heißt, frei aus dem lateinischen übersetzt: „Die Kunst sei mir Gesetz“.

Mit dem traditionellen „Ar weladenn“ aus der Bretagne und einer Bearbeitung des Abba-Titels „Arrival“ zogen Christian Göb, Elisabeth Gerlitzki und Christian Ponatowski die Zuhörer sofort in ihren Bann. Gleichzeitig verwiesen sie damit auf ihr breites Repertoire, das vom Traditional über gregorianische Stücke, Choräle und rockig angehauchten Eigenkompositionen und Arrangements bekannter Weisen keine Wünsche offen lässt.

Die Floristin und Leierbauerin mit einem Walldorfpädagogik-Studium, Elisabeth „Lisa“ Gerlitzki (nebenher ist sie Gasthörerin an der Uni Köln, Oratorienchormitglied, Trommlerin, Geigerin und Flötenlehrerin), tritt mit ihrem gescheitelten, schulterlangen Haar im leuchtenden orangegelben Gewand auf. Wenn sie der Leier ein filigranes Tongespinst entlockte oder auf ihren Sopranflöten gefällige Melodien aufsteigen ließ und sie sich im Rhythmus dabei wiegte, schloss mancher Zuhörer die Augen und gab sich ganz dem Zauber der mittelalterlichen Klänge hin.

Die Tanzstücke boten Christian „Chris“ Ponatowski Gelegenheit, seine Schlagwerkkünste zu demonstrieren. Beim Pferdetanz ahmten die Schlegelenden auf den Eisenringen seiner Fasstrommel den geschwinden Pferdegalopp nach; im Mohrentanz gaben schnelle Paukenschläge den Takt an. Schwungvoll kamen ebenso ein Hasen- und Ziegentanz daher. Neben der Djembe beherrscht der gelernte technische Zeichner mit Bart und Lockenkopf, dem das „Leben als Tätowierer“ mehr Spaß macht“, auch die Bandola und Irische Bouzozki. Das Mitglied in mehreren Bands mit unterschiedlichen Stilrichtungen (z.B. war er Bassist in einer Punkrockband) hat sich aber auch der Erhaltung alten Liedguts verschrieben.

Der blonde Christian Göb im rotsamtenen Rock, genannt „Hase“, ist, wie fast alle Mittelaltermusiker, ebenfalls ein „Multitalent“. Er beherrscht neben Drehleier und Mandola das Spiel auf dem Prozessionsharmonium. Seit 25 Jahren ist er im Kirchenchor aktiv. Der gelernte Orgelbauer mit Schwerpunkt Restauration baut in seiner Holzwerkstatt Instrumente neben und restauriert Möbel. Seine erste Mittelalterband gründete er 1989. Mittlerweile tritt er mit vielen bekannten Künstlern der Szene auf.

Unüblich mutete das Zusammenspiel der drei bei dem Titel „Veni creator spritus“ an. Der Pfingstchoral aus dem Jahre 1000 aus der Kemptener Gegend erklang von der Empore herab mittels Orgel, Trommel und Schalmei in einer ungewöhnlichen harmonischen Verbindung. Gewaltig und mächtiger, fast rockig in gleicher Besetzung die Stücke „Halleluja“ und „Jerusalem“. Besinnlich wiederum die „Sommerliche Traurigkeit“, ruhig und meditativ die Eigenkomposition „Streichpsaltertanz“ mit dem alten, dreieckigen und dreisaitigen Streichinstrument gleichen Namens, das immerhin schon 130 Jahre alt ist.

Das Konzert wies neben der abwechslungsreichen Musikpalette noch eine Besonderheit auf: Die Stücke waren in ein Märchen von Geschichtenerzähler Andreas List, (auch bekannt als Petronius Paternoster) eingebettet. Mit schwarzem Lederhut und in einem hellen Leinenhemd erzählte er mit ausdrucksvoller Stimme von der Kanzel herab die spannende Geschichte vom Menschenjungen Anir, den es auf wundersame Weise ins Elfenreich verschlägt und der dort allerlei Künste erlernt. Er gilt als Vorfahr der Gaukler.

Sabine Koch
30.10.2006

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